Liebes Tagebuch 7. Mai 2017
Manchmal muss man einfach weg. Ich musste weg von der Arbeit, von der ich jede Nacht träume, weg von all den Freunden, für die ich stets da zu sein versuche, weg von all den Dingen, die ich schon zu lange erledigen sollte und doch nie Zeit dafür habe und auch weg von meinem penetranten Handyklingelton. Einfach weg von allem. Und das tat ich. Ganz spontan. Ohne gross nachzudenken packte ich meine Sachen; meine ID und Generalabonnement, Geld, eine Zahnbürste, mein Pyjama und meinen kleinen Hund inklusive kleinem Haus und Hundepass.
Mein Handy liess ich zuhause, dabei hatte ich nur eine urzeitliche Schöpfung, die man im Notfall verwenden könnte um 144 anzurufen und einen I-Pod, der mehr an einen unförmigen blauen Stein erinnert, als an das worunter man sich heute ein Gerät zum Musik anhören vorstellt.
Mit dem GA konnte ich bis nach Domodossola gratis fahren. Das wollte ich schon immer einmal machen und nun war ich wirklich innerhalb von 2.5 Stunden aus der Schweiz in das idyllische italienische Städtchen gelangt. Ich stieg also aus dem Zug aus, schlenderte aus dem alten Bahnhofgebäude heraus und genoss das sonnige Wetter, die entspannte Atmosphäre und die Distanz zwischen mir und allem, was ich zurück liess für ein paar Tage. Und dann traf mich der Schock. Ich hatte keine Ahnung wo das Hotel ist, das ich gestern noch spontan auf bookings.com gebucht hatte. In meiner Eile hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, dass ich mit meinem Steinzeitgerät kein google maps nutzen kann. In einer Hand hielt ich die Hundeleine, in der anderen das Hundehaus und meine Tasche. So irrte ich auf und ab durch den Bahnhof und zog reichlich Aufmerksamkeit auf uns. Das war’s mit meiner Gelassenheit. Ich fragte in einem Kiosk nach, ob sie vielleicht die «Villa Moro» kennen. Die schickten mich ins Reisebüro, aber das hatte am Sonntag natürlich geschlossen.
Ich setzte mich auf eine schattige Bank im Park beim Bahnhof und wartete auf eine erleuchtende Idee, wie ich mit meinem gebrochenen Italienisch herausfinden würde, auf welchem Berg mein Hotel ist und wie man dorthin kommt. Der Bahnhof in Domodossola ist alt und nicht wirklich gross. Die Leute um mich redeten in melodischem Italienisch, welches in alle Richtungen an die Felswände des bergumgebenen Städtchens halte. „Mamma Mia!“ Numa legte sich ins Gras und streckte alle Viere in die Luft. Und da kam sie die Erleuchtung, in Form eines Taxi giallo. Das Taxi hielt an, der Taxifahrer kenne die Villa und fuhr mich auf den richtigen Berg. Die Aussicht war herrlich, all die kleinen, bunten Häuser, die in der Abendsonne glitzerten. Auch diese idyllische Ankunft wurde Sekunden später gebrochen. Als das Tor zur Villa aufging wurden Numa und ich von vier aufgebrachten Hunden in Empfang genommen. Bellend und schwanzwedelnd machten sie das Weiterlaufen unmöglich. Die Hausbesitzerin kam singend aus dem Haus und rief ihre Hunde mir zarten Worten zurück . Isabelle hatte so eine ruhige und positive Ausstrahlung, dass ich mich trotz dem zweiten Schock schnell wieder beruhigte und froh war hier zu sein.
Das Zimmer war hell aber vollgestopft mit den verrücktesten Sachen, die ich in einer langen Nacht noch alle entdecken würde- aber dazu später. Das Badezimmer war einfach nur der Wahnsinn. Als mir Isabella erklärte wie ich meinen eigenen Whirlpool bediene kann, war ich einfach nur den Tränen nahe und lehnte mich gegen eine der Blumen verzierten Steinwände. Da es bereits Abend war, wollte ich unbedingt noch schnell etwas essen gehen und so liess ich mein Gepäck beim Eingang stehen und machte mich auf die Suche. Aus diesem Wunsch kurz was essen zu gehen, wurde eine nächtliche Wanderung durch Felder, vorbei an alten Kapellen und Chalets ins Tal. Unten angekommen war ich so hungrig, dass ich weder die Energie noch die Nerven hatte mit Numa lange durch die Gässchen zu irren und fragte die erste Person «Dov’é il centro, per fa vore?» Der Weg zum Zentrum wurde mir so beschrieben: «avanti, avanti é à la casa vecchia à destra» und als ich rechts an
einem halbzerfallenen Haus vorbei kam fand ich sie. Die «Piazza Mercato» mitten im Zentrum der Altstadt, den Platz den jeder besuchen sollte, denn glaubt mir, erst wenn man dort angekommen ist, ist man wirklich in Domo angekommen. Kinder spielten an diesem Sonntagabend auf dem Platz während in den Beizen rund um den Platz Erwachsene mit einem Glas Wein die letzten Sonnenstrahlen aufsogen. Traumhafte Atmosphäre hin oder her, setzte ich mich schnellstmöglich in den nächsten Stuhl und bestellte mein eigenes Glas Wein, das automatisch mit einem Teller Popcorn, Chips, Bruschetta und Gemüse begleitet wurde. Viva l’Italia. Nach diesem sympathischen Apéro draussen entschied ich mich drinnen in den Restaurant Teil zu gehen. Und oh wie trübte der Schein eines klei
nen Lokals von aussen. Die Wände waren mit Spiegeln versehen, die Stühle und Tische aus durchsichtigen edlen Materialien. Geschockt von diesem Anblick wollte ich gerade wieder umdrehen, als ein junger Mann schon um meine Jacke bittete und mich zu einem leeren Tisch führte. Und so kam es, dass ich mit meinen verwaschenen roten Haaren und dem lila Schlabberpulli auf einem dieser lächerlich edlen Stühle Platz nahm. Ich bekam eine überdimensional grosse Karte und fand mich vor verschnörkelten italienischen Wörtern, deren Bedeutung ich nur zu erahnen versuchen konnte. Irgendwo stand das freundliche Wort «Spaghetti» u
nd ich bat um eine Portion dessen mit Tomatensauce. Der Kellner holte den Küchenchef, der mir dann versuchte zu erklären, dass so ein Spezialmenü zu aufwändig wäre und mir Gnocchi mit Garnelen oder Fisch mit Gorgonzola vorschlug. Als ich all seine Versüche höflich ablehnte fand er dann doch, dass Spaghetti Pomodoro machbar wären.
Also hier nochmal für alle, ich habe einen Teller Spaghetti bestellt. Und hier ist das, was ich schliesslich alles bekam:
– Ein Glas Rotwein
– 1L Mineralwasser
– Gemüse Suppe
– Salat mit Blumen
– Brötchen mit Olivenöl
– Viele kleine Probierhäppchen
– Einen Espresso
– Einen Shot mit Erdbeersaft und Malibu
– Und eine winzige Portion Spaghetti mit Tomatensauce
Ich war zwar alleine mit meinem Hund in diesem Restaurant, amüsierte mich aber dennoch köstlich. Es war alles so gediegen, dass es schon wieder zum Lachen war. Ich wurde zweimal zur Damentoilette begleitet, die Brotkrümmel wurden nach jedem Gang mit einem metallenen messerähnlichen Teil vom Tisch gewischt und nach der kleinen Portion Spaghetti bekam ich eine Schale mit einem kleinen, weissen Türmchen serviert. Auf dem Türmchen waren Blumen und ein Kellner leerte gekonnt heisses Wasser darüber. Eine warme Serviette entfaltete sich vor meinen Augen. Ich lachte und bedankte mich. Immer als ich dachte, es gehe nicht noch merkwürdiger, legten sie noch einen drauf. Der Espresso etwa war in einem Rechteck und wurde mit 4 Sorten Zucker aufgetischt. Hell, dunkel, Vanille und mit Pfeffer. Am Ende bekam ich eine Rechnung von 21 Euro für meine Pasta und fand meinen Mantel einer Adonis-Statue übergehängt vor. Ich verabschiedete mich und ging nach draussen, dort stellte ich fest, dass ich wieder keine Ahnung hatte, wo ich war. Ich ging zurück und fragte nach der «stazione». Der junge Herr im Pinguinanzug begleitete mich unaufgefordert bis zur Kreuzung. Kopfschüttelnd ging ich die Bahnhofsstrasse runter, Numa zottelte müde neben mir her. Es war doch ein langer Tag gewesen. Ich entschied mir wieder ein Taxi zu suchen. Doch es kam einfach keines. Dank meiner Dialogerfähigkeiten suchte ich mir einen sympathischen jungen Menschen aus: «tu con il smartphone, puoi chiambare un taxi per me?» Er war etwas abgelenkt wegen einem Ticket, das er zu lösen versuchte und fragte halbpatzig wohin. Ich sagte zur Villa Moro, aber er war schon im Bahnhof verschwunden. Am Bahnhof stehen gelassen zu werden, das habe ich bei der Arbeit genug, dachte ich halb schmunzelnd, halb aber auch verzweifelnd. Nun war ich ganz allein an diesem leeren Bahnhof mitten in der Nacht. Im Gegensatz zu 99% der Leute die ich bei der Arbeit an den schweizer Bahnhöfen treffe, kam er jedoch nach wenigen Minuten zurück und entschuldigte sich. Er habe unbedingt dieses Ticket lösen müssen, die Villa sei aber gleich bei ihm um die Ecke und er schlug vor mich heimzufahren. Einen Moment zögerte ich. Man sollte ja doch ein wenig vorsichtig sein, wenn man alleine reist. Aber als ich Numa sah, wie sie sich auf seine Füsse setzte und ihn anhimmelte, waren meine Bedenken behoben und ich liess mich ein weiteres Mal an dem Tag zum Hotel fahren.
Ich war allein an diesem ersten Tag, aber es fühlte sich an, als würde die ganze Stadt auf mich aufpassen.